Ist Stillen nicht das Natürlichste der Welt und klappt von ganz alleine? Stillberaterin IBCLC Barbara Ruben spricht in diesem Artikel über Mythen rund ums Thema Stillen.
Die ausgebildete Pflegefachfrau hat über viele Jahre in Zürich auf der Wochenbettabteilung gearbeitet. Sie ist ausgebildete Stillberaterin IBCLC und Schlafberaterin 1001kindernacht®. Nach der Geburt ihrer Tochter in 2015 hat sie sich ganz auf ihre selbständige Tätigkeit konzentriert. Sie betreut Familien im ambulanten Wochenbett und bietet Stillberatungen und Schlafberatungen an.
Dabei begegnet sie ihnen fast täglich, den Mythen und Ammenmärchen. Speziell zum Thema Stillen sind diese weit verbreitet. Es ist ihr eine Herzensangelegenheit aufzuklären und zu stärken. «Die erste Zeit mit dem Baby ist so eine verletzliche Zeit. Um so wichtiger sind Zuspruch und fachliche korrekte Informationen.» In diesem Artikel stellt sie ihre aktuellen «Top 10» aus der Praxis vor.
1) Wunde Brustwarzen sind am Anfang ganz normal.
Wunde Brustwarzen müssen nicht sein, Prävention ist das A & O. Dabei ist es wichtig auf die Hautpflege und die richtige Ansetz- und Ablösetechnik zu achten. Nichts desto trotz leiden viele Frauen, vor allem zu Beginn der Stillzeit, an wunden Brustwarzen. Das muss nicht der Grund zum Abstillen sein. Es gibt Hilfe und meistens können die Verletzungen in kurzer Zeit kuriert werden. Ursache sind nicht häufige und lange Stillmahlzeiten. 8 – 12 Stillmahlzeiten in 24 Stunden sind ganz normal.
2) Stillen ist das Natürlichste auf der Welt und funktioniert ganz von alleine.
Grundsätzlich ja. Stillen ist unsere natürliche Form der Ernährung. Es braucht aber meistens etwas Zeit bis es klappt.
Ich vergleiche es mit dem Tanzen lernen. Stell dir vor, du hast einen Tanzpartner, welcher auch noch unerfahren ist. Am Anfang kann es sein, dass ihr euch gegenseitig auf die Füsse tretet oder Blasen von den Tanzschuhen bekommt. Es gibt Grundschritte, welche zu erlernen sind und es ist hilfreich, einen erfahrenen Coach an seiner Seite zu haben. Mit Übung und Erfahrung werdet ihr lockerer und die Bewegungen fliessender.
So ist es auch mit dem Stillen. Natürlich gibt es, wie auch beim Tanzen, Naturtalente. Aber die Mehrheit der Stillpaare brauchen ein paar Wochen, bis sie eingespielt sind. Ausserdem ist das Stillen Teamwork. Die Unterstützung des Umfelds ist sehr wichtig.
Ich sage gerne: Um ein Kind zu stillen, braucht es ein ganzes Dorf!
3) Meine Mutter konnte mich nicht lange stillen. Das ist sicher der Grund, warum es bei mir nicht so recht klappt.
Rein anatomisch gesehen, sind es nur etwa 3 - 4 % der Frauen, welche nicht Stillen können. Leider hatte deine Mutter vermutlich keine grosse Hilfe beim Stillen. Das Stillen war zu ihrer Zeit oft schon im Spital erschwert. Die Babys waren von ihren Müttern mehrheitlich getrennt und wurden ihnen nur alle vier Stunden zum Stillen gebracht. Stillinstruktion und Begleitung waren kaum vorhanden. Vorher und nachher wurde gewogen und die fehlenden Milliliter durch Pulvermilch ergänzt. So wurde die Brust nicht genügend angeregt und die Neugeborenen tranken immer mehr von der Flasche. Ein Teufelskreis, der oft zum frühzeitigen Abstillen geführt hat.
4) Babys schlafen besser, wenn sie am Abend einen grossen Schoppen Pulvermilch trinken.
«Mit vollem Bauch schläft es sich besser und länger» – Dieser Mythos ist nicht korrekt und hält sich besonders hartnäckig.
Schlafen ist ein Entwicklungs- und Reifungsprozess wie zum Beispiel das Laufen lernen. Er kann nicht wesentlich von aussen beeinflusst werden. Oftmals trinken die Babys an der Brust abends in kürzeren Abständen (das sogenannte Clusterfeeding) und machen dann einen längeren Schlaf. Nächtliches Stillen oder Flasche geben sind im 1. Lebensjahr zudem wichtig für die Gehirnentwicklung.
5) Mein Baby sollte nach dem Trinken immer ein Görpsli machen.
Viele Eltern sind verunsichert, wenn das Baby nach dem Essen nicht aufstösst. Dabei ist dies gar nicht immer notwendig.
Das «Aufstossen helfen» kann dem Baby angeboten werden. Wenn Luft da ist, kommt das Görpsli meist sehr schnell. Dreissig Minuten Herumtragen und auf den Rücken klopfen muss jedoch nicht sein. Viele Mamis stillen ihre Kinder nachts im Liegen ohne sich aufzurichten – und es passiert nichts. Manchmal erlebe ich, dass vor allem jüngere Babys, in liegender Position versuchen aufzustossen, dabei kann wieder etwas Milch heraus kommen. Da ist ein Görpsli hilfreich. Bei älteren Babys ist das jedoch meist nicht mehr nötig.
6) Meine Brüste müssen nach dem Stillen leer sein.
So logisch das auch klingen mag, tatsächlich sind sie nie ganz leer. Früher dachte man, dass in der Brust sogenannte «Milchseen» sind, welche sich füllen und entleeren. Heute weiss man, dass es sich eher um «Milchbäche» handelt. Vor allem während dem Stillen wird die Milchbildung stark angeregt. Das heisst, es wird Nachschub gebildet und (teils) umgehend getrunken.
7) Vom Stillen bekommt man Hängebrüste.
Das stimmt nicht. Die meiste Dehnung findet in der Schwangerschaft statt. Dabei ist auch die Gewichtszunahme ein wichtiger Faktor für die Veränderung der Brust. Vereinfacht gesagt hat die Frau vor der Schwangerschaft 1/3 Drüsengewebe und 2/3 Fettgewebe. In der Schwangerschaft verändert sich dies proportional, sodass für die Stillzeit 2/3 Drüsengewebe und 1/3 Fettgewebe vorhanden sind. Nach der Stillzeit braucht der Körper 3-5 Jahre, bis sich dieses Verhältnis wieder zurückgebildet hat. Die Festigkeit des Bindegewebes ist grundsätzlich genetisch bedingt, kann aber mit einer gesunden Lebensweise positiv beeinflusst werden.
8) Ein 2,5 jähriges Kind noch zu stillen ist nicht normal.
Leider ist diese Aussage bei uns weitverbreitet. Vielen Frauen fehlen Vorbilder und Gleichgesinnte. Dies führt oft zum vorzeitigen Abstillen. Fälschlicherweise wird das Stillen nach dem 1. Geburtstag oft als Langzeitstillen bezeichnet. Mir persönlich gefällt hier der englische Begriff «full-term breastfeeding» besser. Damit ist gemeint, dass das Kind nicht in einem bestimmten Alter abgestillt wird. Es entscheidet selber, wann es die Brust nicht mehr braucht. Das biologische Abstillalter liegt laut der Anthropologin Katherine A. Dettwyler bei 2,3 – 7 Jahren.
9) Wenn ich wieder arbeiten gehe, muss ich abstillen.
Die Wiederaufnahme der Arbeit muss nicht mit dem Abstillen einhergehen. Zum Beispiel kann dir dein Baby zum Stillen gebracht werden oder du pumpst ab und dein Baby wird mit der abgepumpten Milch ernährt. Eine weitere Möglichkeit ist das Teilstillen, sprich Pulvermilch (und Beikost) wenn ihr getrennt seit und die restliche Zeit stillt ihr. Hier sind eure persönlichen Wünsche und Ressourcen relevant. Oftmals fehlt es auch an Informationen bezüglich Rechten am Arbeitsplatz.
10) Ich habe vor 6 Monate zu stillen. Dies ist ja auch die Empfehlung der WHO.
Diese Aussage ist so nicht ganz vollständig. Die Empfehlung lautet: «Ausschliessliches Stillen bis zum vollendeten 6. Monat. Dann Einführung von Beikost und Weiterstillen bis zum 2. Geburtstag und darüber hinaus, solange es für Mutter und Kind stimmt.»
Leider wird der zweite Teil der Empfehlung oft nicht genannt. Dies hat meiner Meinung nach mit der Vermarktung von Pulvermilch zu tun. Ein weiterer Grund, warum viele Frauen in der Schweiz nur 6 Monate stillen, ist der Wiedereintritt in die Arbeitswelt.
Wie kann es sein, dass ich mich mit diesen Themen oft alleine und unverstanden fühle?
Ich erlebe es oft, dass Mütter mit ihren kleinen Babys recht isoliert leben. Früher hat man enger in der Familie zusammengelebt. Vorbilder waren vorhanden. Die Tante hat ihr Kind gestillt, die Grossmutter hat das Baby gebadet. Auf natürliche Weise wurden Kinder und Jugendliche so schon früh in die Kinderbetreuung integriert. Heutzutage kommt es vor, dass Erwachsene kaum Kontakt zu Babys haben, bis sie ihr eigenes im Arm halten.
Vor allem in der Stadt leben viele Paare alleine in einer 4-Zimmerwohnung. Der Mann muss nach kurzem Babyurlaub wieder arbeiten gehen. Ein Clanleben fehlt. Hier ist es wichtig, sich ein unterstützendes Umfeld zu schaffen. Wertvoll finde ich dafür die Stilltreffen von der La Leche League und die Teilnahme an einem Rückbildungskurs.
Im Trend ist gerade Kangatraining - zusammen Sport machen, Spass haben und fit werden. Hier können Kontakte zu anderen Frauen und ihren Familien geknüpft werden, die Gemeinschaft gestärkt und evtl. Arbeiten aufgeteilt werden. Ausserdem gibt es im Netz wertvolle Communities rund ums Stillen und Kinderkriegen. Aus diesem Grund habe ich eine Facebook-Gruppe gegründet. Hier könnt ihr Euch verknüpfen, austauschen und Rat von Fachleuten holen.
fazit
Stillen ist ein grosses Thema, es lohnt sich zu hinterfragen. So manches entpuppt sich als Mythos oder Ammenmärchen, wenn man genauer hinschaut. Wichtig ist, dass Mutter und Kind auf ihrem individuellen Weg Unterstützung erhalten und gestärkt werden.
Barbara Ruben findest du auf ihrer Homepage unter www.barbararuben.ch oder auf Facebook.
Caro Loder
babies müssen nach dem stillen zwingend ein bäuerchen machen und vom stillen bekommt man hängebrüste...:(...
Michela Vogt
Man kann einfach und schnell abstillen, wenn einem nicht mehr danach ist.
Barbara
Ja genau. Hier menschelt es . Sprich Stillen ist ein Zusammenspiel von Mutter und Kind. Deshalb kann dieser Prozess sehr unterschiedlich sein. Auch das Alter des Kindes hat einen grossen Einfluss. Ausserdem hat die Anatomie (die Brust) auch noch ein Wort mitzusprechen.
Luana Sergi
Die Muttermilch reicht nach dem 6. Monat nicht mehr aus, du musst unbedingt mit Ergänzungen wie Breikost oder Pulvermilch anfangen!
Barbara
Dieses Ammenmärchen hält sich sehr hartnäckig! Wenn ich darauf hinweise wie kalorienarm Brei‘s im Vergleich zur Milch sind, fängt das Umdenken an.
Die Muttermilch ist Astronautenfood. Ideale Versorgung rundum.
Tanja Wenger
Dass nach 6 monaten die nährstoffe nicht mehr ausreichen und abgestillt werden muss.. ich habe auch nie gehört gehabt dass es das natürliche abstillen gibt.
Barbara
Ja genau. Hier hat die Pulvermilchindustrie die WHO Empfehlung „erfolgreich“ abgekürzt.
„Voll Stillen bis zum 6. Monat, dann Einführung der Beikost unter dem Schutz des Stillens, bis zum 2. Lebensjahr und darüber hinaus, solllange es Mutter und Kind wünschen“!
Leider ist in unserer Gesellschaft nur der 1. Teil present.
Man lese die Verpackung oder Werbung für Muttermilchersatzprodukte.